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Schleswig-Holstein: Jahrzehntelang testeten Klinik-Mitarbeiter Medikamente an Heimkindern und Erwachsenen

Bis ein Medikament in den freien Handel gelangt, werden in der Regel zahllose Tests und Studien vorgenommen, ausgearbeitet und ausgewertet.

Dadurch sollen alle möglichen Risiken und Nebenwirkungen erkannt und ausgebessert werden. Solange nicht Tiere in diesen Versuchen involviert sind, die sich leider nicht dagegen aussprechen können, sind es Menschen, die sich aber freiwillig für diese Tests melden.

Daher macht der folgende Fall in Schleswig-Holstein einen fassungslos, über den der Focus berichtete.

Demnach sollen bis in die 1970er-Jahre Medikamententests an Heimkindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen in Einrichtungen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien vorgenommen worden sein.

Das ergab der Zwischenbericht der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Leids von Heimkindern.

Recherchen des NDR ausschlaggebend

Christof Beyer, tätig am Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung an der Universität Lübeck, gab das am Donnerstag im Sozialausschuss des Landtags bekannt:

„Die Testungen neuer Substanzen und Anwendungsbeobachtungen waren ein gängiger Teil der zeitgenössischen ärztlichen Praxis, zu der auch die Psychiatrie gehörte.“

Recherchen des NDR hatten vor drei Jahren den Ball ins Rollen gebracht. Laut diesen soll es zwischen 1949 und 1975 in Einrichtungen der Behindertenhilfe sowie der Erwachsenen-, Kinder- und Jugendpsychiatrie zu schweren Verfehlungen hinsichtlich Medikamententests gekommen sein.

Auch Versuche mit Psychopharmaka wurden vorgenommen.

Ende November 2018 hatten Betroffene erstmals öffentlich über ihre schrecklichen Erlebnisse gesprochen. Als Konsequenz gab das Sozialministerium in Auftrag, die Versuche sowie Leid und Unrecht der Geschädigten zu erforschen.

„Keine versteckte oder verheimlichte Praxis“

In Deutschland hatte es bis 1976 keine strenge Regeln für die Prüfung von Arzneimitteln gegeben, erst dann seien Einwilligungen in Tests juristisch vorgeschrieben worden.

Laut Beyer seien diese Versuche aber „keine versteckte oder verheimlichte Praxis“ gewesen, man habe in der Fachöffentlichkeit breit darüber diskutiert.

Bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Fälle kam heraus, dass knappe Kassen ein Grund für diese Medikamententests an Kindern und Jugendlichen waren.

Die zuständigen Wissenschaftler schreiben:

„Im Kontext knapper Haushaltsmittel und stark steigender Kosten für neue Psychopharmaka in den 1950er-Jahren wiesen sowohl das Landeskrankenhaus Schleswig als auch das Landeskrankenhaus Heiligenhafen das Ministerium darauf hin, dass kostenlose „Ärztemuster“ und die Anwendung von neuen Präparaten unter dem Aspekt der Kostensenkung eingesetzt wurden.“

Folgen für die Betroffenen bestanden etwa aus Hautausschlag bis hin zu Atemstillstand.

Gewalt gehörte auch dazu

Man habe auch Hinweise auf Gewalt unter Patienten und Berichte von Sedierungen, Ruhigstellungen durch Medikamente, entdeckt. Patienten beschwerten sich unter anderem über verabreichte „Beruhigungsspritzen“.

Im Innenministerium für Gesundheit, das bis 1971 zuständig gewesen war, waren diese Missstände bekannt und auch von Klinikleitern angezeigt worden. Änderungen habe es aber erst Jahre später gegeben.

Für Sozialminister Heiner Garg (FDP) ist nach Veröffentlichung des Berichts klar, dass es sich „nicht um isolierte Einzelfälle“ handele:

„Man kann sehr wohl von einem systematischen Vorgehen sprechen.“

Es sei erschreckend, wie man mit Kindern und Jugendlichen umgegangen sei.

Daher erwarte der Minister, dass de Pharma-Industrie sich zu ihrer Verantwortung bekenne und am weiteren Prozess der Aufarbeitung und Anerkennung mitzuwirken.

Man kann sich gar nicht ausmalen, was diese unschuldigen Menschen für Qualen erleiden mussten.